Donnerstag, 8. Dezember 2016

An das kleine Mädchen - Teil 2

Unsichtbar. Sie wünscht sich nichts mehr, als das. Unsichtbar sein. Durch das Leben gehen, und nicht gesehen und somit nicht verurteilt, ausgelacht oder gehänselt zu werden. Ein großer Verlust wäre es ja nicht, wenn sie den Worten glauben kann, die sie jeden Tag hört. Oder nicht hört. Sie hört nicht, dass sie schöne große grüne Augen hat, die mit dem Licht ihre Farbe ändern. Sie hört nicht, dass ihr Lächeln den Raum mit Sonne flutet und dunkle Wolken vertreiben kann. Sie hört nicht, dass ihr kleines Gehirn schneller und wirkungsvoller arbeitet, als manche großen. Sie hört nicht, dass sie unglaublich kreativ ist und mit den einfachsten Mitteln die tollsten Dinge fabrizieren kann. Sie hört nicht, dass es nicht selbstverständlich ist, dass ein Kind stundenlang alleine spielen kann, ohne dass ihm langweilig wird. Sie hört nicht, dass sie nicht die einzige ist, die an einem schönen Tag allein zu Hause sitzt und denkt, dass alle anderen Kinder jetzt draussen sind und ohne sie zusammen spielen. Sie hört nicht, dass es nicht selbstverständlich ist, in der Schule sofort alles zu verstehen. Sie hört nicht, dass ihre Eltern stolz auf sie sind und dankbar, dass sie so ein problemloses Kind ist. Sie hört nicht, dass ihr die Welt offen steht und sie eines Tages dazu beitragen wird, sie zu verändern.

Und so sitzt sie in ihrem Klassenraum, träumt vor sich hin und meldet sich wieder einmal nicht, obwohl sie die Antwort weiss. Sie hofft, dass die Lehrerin sie nicht aufrufen wird, um sie vor der Klasse zu loben, oder sie als Aufsicht beruft, da sie kurz ins Lehrerzimmer muss. Sie hofft, dass sie dieses Mal durch die Pause kommt, ohne dass sie diese Worte hört. Vielleicht ist es sogar eine der Pausen, in der sie in der Menge untergeht und mitspielen kann. Manchmal fühlt sie sich sogar als Teil der Gruppe. Auch wenn sie nicht sicher ist, dass sie wirklich dazu gehört. Wäre das der Fall, würde sie nicht jeden Tag dazu gehören? Sie würde viel lieber zuhören und am Unterricht teilnehmen. Fragen stellen und noch so viel mehr lernen, als das, was die Lehrerin ihnen zu sagen hat. Aber dann würde sie nicht mehr unsichtbar sein, sondern im Mittelpunkt stehen. Und das ist zu gefährlich. Denn dort ist es hell und jeder kann sie sehen. Und Dinge nach ihr werfen.

Die Tür geht auf, und eine Frau mittleren Alters kommt in den Raum. Sie sieht sich um, und ihre Augen finden das kleine Mädchen. Ohne die Lehrerin oder den Rest der Klasse auch nur eines Blickes zu würdigen, geht sie direkt auf das kleine Mädchen zu. Es schaut zu ihr herauf, als sie direkt vor ihm steht. Sie geht in die Hocke, so dass beide auf Augenhöhe sind. Und sieht ihm direkt in die Augen. Dem Mädchen wird ganz warm und ihre Ohren ringen, als sie hört, was die Frau ihr zu sagen hat. Sie sagt, dass es schöne große grüne Augen hat, die mit dem Licht ihre Farbe ändern. Sie sagt, dass sein Lächeln den Raum mit Sonne flutet und dunkle Wolken vertreiben kann. Sie sagt, dass sein kleines Gehirn schneller und wirkungsvoller arbeitet, als manche großen. Sie sagt, dass es unglaublich kreativ ist und mit den einfachsten Mitteln die tollsten Dinge fabrizieren kann. Sie sagt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass es stundenlang alleine spielen kann, ohne dass ihm langweilig wird. Sie sagt, dass es nicht das einzige Kind ist, das an einem schönen Tag allein zu Hause sitzt und denkt, dass alle anderen Kinder jetzt draussen sind und ohne es zusammen spielen. Sie sagt, dass es nicht selbstverständlich ist, in der Schule sofort alles zu verstehen. Sie sagt, dass seine Eltern stolz auf es sind und dankbar, dass es so ein problemloses Kind ist. Und sie sagt, dass ihm die Welt offen steht und es eines Tages dazu beitragen wird, sie zu verändern.

Während dem kleinen Mädchen die Tränen die Wangen herunterlaufen, blickt die Frau ihm noch fester in die Augen. Sie nimmt die kleinen Hände ihn ihre großen, schlanken warmen Hände und während sie sie drückt, sagt sie: "Versprich mir, dass du nichts davon vergisst. Egal was passiert, oder was andere zu dir sagen. Vergiss es nie." Das Mädchen schluckt, beginnt tapfer zu lächeln und nickt, erst unmerklich und zögerlich, dann heftiger und bestimmter. "Ich verspreche es. Ich werde es niemals vergessen."