Donnerstag, 1. Mai 2014

An das kleine Mädchen

Sie sitzt wieder dort. So wie fast jeden Nachmittag seit einigen Wochen. Entweder brütet sie über ihren Schulbüchern und -heften und macht Hausaufgaben oder lernt, oder sie ist in ein Buch vertieft. Hin und wieder wandert ihr Blick zur Glastür der Station. Unter dem Namen der Station befindet sich ein Schild "Kinder unter 14 Jahren haben keinen Zutritt." Der Grund weshalb sie hier draußen sitzen muß und nicht gemeinsam mit ihrer Mutter oder Vater bei ihrem Bruder im Zimmer sein darf. Sie verbringt nicht jeden Nachmittag hier. Manchmal kann sie nach der Schule zu einer Freundin oder ihrer Oma. Auch wenn sie dort weniger gelangweilt ist, ist es ihr lieber, hier zu warten. Manchmal, wenn sie Glück hat, öffnet sich die Tür und eine Schwester winkt sie mit Verschwörermiene in die Station hinein. Dann kann sie ein paar Minuten mit ihrem Bruder verbringen. Den sie so vermißt.

Der Bruder hatte den Unfall. Der Bruder wurde so schwer verletzt, daß es schon ein großes Glück war, daß er ihn überlebt hat aber nahezu an ein Wunder grenzt, daß er so schnell wieder auf dem Weg der Besserung ist. Ihre Eltern sind sehr besorgt und versuchen, jede freie Minute mit ihm zu verbringen und alles zu tun, damit es ihm wieder besser geht. Zum Glück hatten sie eine Unfallversicherung, so daß neben der Sorge um ihren Bruder nicht auch noch Geldsorgen hinzukamen. Aber dennoch, das kleine Mädchen macht sich viele Gedanken. Ganz oben Gedanken um ihren Bruder. Wird er wieder gesund? Wann kommt er wieder heim? Wann ist er wieder so wie früher? Kommt er vielleicht gar nicht wieder nach Hause? Dann um ihre Eltern. Wie kann sie sicherstellen, daß sie nicht noch mehr Sorgen bekommen? Wann sind sie endlich wieder so gut gelaunt und sorglos wie früher?

Ihr Gesicht hat zu viele Sorgenfalten für ihr Alter. Aber man sieht ihr an, daß sie tapfer sein will. Sie möchte ihren Eltern nicht noch mehr Kummer bereiten. Sie wird ihnen nicht zeigen, daß sie wahnsinnige Angst hat, ihren Bruder zu verlieren. Sie wird ihnen nicht davon erzählen, was in ihr vorgeht. Die kalte Hand, die sich ständig um ihre Kehle legt und ihr das Atmen so schwer macht. Sie wird es allein schaffen, diese Angst in den Griff zu bekommen. Sie muß und sie wird stark sein. Ihrem Bruder zuliebe.

Eines Nachmittags taucht eine Frau in der Klinik auf. Sie muß Mitte Dreißig sein, sieht aber jünger aus. Sie ist groß, sportlich und ihr Gang aufrecht und selbstbewußt. Sie wirkt entspannt und glücklich und irgendwie hat ihr Erscheinen den Raum verändert. Es ist alles ein wenig sonniger und heller. Lächelnd geht sie auf das Mädchen zu, kniet vor dem Tisch an dem es sitzt, um auf Augenhöhe zu gelangen. Das Mädchen schaut auf und runzelt für einen Moment die Stirn. Dann breitet sich Erkennen auf seinem Gesicht aus. Es lächelt und seine Augen beginnen zu glitzern. Tränen rollen ihre Wangen herunter. Es blickt der Frau fest in die Augen und nickt unmerklich. Es weiß, wer die Frau ist und weshalb sie hier ist. Und daß es sich von nun an keine Sorgen mehr machen muß.